Insurance-Special: KI & Data Science – Chance oder Challenge für Aktuare?

Versicherungen sind seit jeher datengetrieben und prädestiniert für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Machine Learning. Was bedeutet das für die Rolle der Aktuare? Werden sie durch neue Technologien überflüssig oder müssen sie auf Data Science umschulen? Das hat Dr. Markus Knappitsch mit dem Assekuranz-Experten Prof. Dr. Jan-Philipp Schmidt von der TH Köln diskutiert.

Herr Professor Schmidt, die fortschreitende Digitalisierung hat Auswirkungen auf alle Branchen. Wie beeinflusst sie den Arbeitsalltag speziell von Aktuaren?

Aktuare finden wir heutzutage nicht mehr nur bei „klassischen“ Versicherungsunternehmen. Vielmehr tummeln sie sich auch bei den vielen Beratungs-, Prüfungs- und Dienstleistungsunternehmen der Branche, die Services rund um das klassische Versicherungsgeschäft anbieten. Die Themenbereiche der Aktuare haben sich im Vergleich zu den 1990er-Jahren zudem deutlich erweitert. Während sie in den Unternehmen ursprünglich insbesondere bei der Prämien- und Reservekalkulation anzutreffen waren, sind sie heutzutage an einer Vielzahl an Aufgaben beteiligt, u. a. im Risikomanagement, bei der Kapitalanlage sowie in der IT. Einen „typischen Aktuar-Arbeitsalltag“, den es vor 30 Jahren vielleicht noch gab, finden wir heute definitiv nicht mehr vor. Je nach Einsatzbereich muss eine Aktuarin oder ein Aktuar heute zudem auf bestimmte Bereiche spezialisiert sein, z. B. auf Risikomanagement oder Produktentwicklung.

Was aber alle Aktuare nach wie vor auszeichnet, sind starke analytische Fähigkeiten, die quantitative Analyse komplexer Fragestellungen und ein kritisches Auseinandersetzen mit Daten und Berechnungsergebnissen. Sie sind echte Zahlen- und Daten-Genies. Das erklärt, warum Aktuare in der Assekuranz so ein hohes Ansehen genießen – und für den Unternehmenserfolg von großer Bedeutung sind!

Beim Thema Daten und Analytics können KI und Automation bereits viele Aufgaben besser stemmen als der Mensch. Werden Aktuare dadurch in Zukunft überflüssig?

Ein klares „Nein“! Wenn ich eine Prognose aufstellen darf, würde ich das Gegenteil behaupten. Nämlich, dass KI und Automation die Rolle der Aktuare in der Assekuranz weiter stärken und ihre Aufgabengebiete tendenziell erweitern werden. KI und Automation sind in der Assekuranz aktuell in denjenigen Bereichen erfolgreich, in denen eine Vielzahl an Daten vorliegt, die zeitlich keiner großen Veränderung unterliegen: Wenn wir zum Beispiel an die automatische Texterkennung denken, dann sind die Erfolge dort u. a. deshalb so beeindruckend, weil sich unsere Schriftzeichen nicht laufend ändern. Versicherungsschäden können im Gegensatz dazu von laufenden Veränderungen der Rahmenbedingungen und Umwelt beeinflusst sein; die Kaskoschäden in der Kraftfahrtversicherung werden zum Beispiel durch neue Sicherheitssysteme im Straßenverkehr bedingt. Das ist eine ganz andere Umwelt als noch vor 20 Jahren. Und denken wir an die Digitalisierung: Aktuell ist die Cyber-Versicherung in aller Munde. Hier gibt es aber teilweise noch gar keine Daten zu Risiken aus der Vergangenheit, sodass eine Risikobewertung sehr anspruchsvoll und mit viel Unsicherheit verbunden ist. Daher ist die Bewertung von Risiken maschinell auch immer nur begrenzt möglich. Hier ist aus meiner Sicht eine „aktuarielle Intelligenz“ erforderlich, um beispielsweise mit der Ungewissheit oder dem Nichtvorhandensein von adäquaten Daten umzugehen. Abgesehen davon können KI und Automation die Aktuare in ihrer Arbeit sehr gut unterstützen und die Qualität verbessern. Ersetzen werden sie die Menschen aber nicht.

Versicherungen müssen zahlreiche regulatorische Vorgaben berücksichtigen. Inwieweit wirkt sich das auf die Einführung und Weiterentwicklung von Technologien wie KI aus?

Hier müssen wir zwischen den verschiedenen Versicherungssparten unterscheiden. In der privaten Krankenversicherung stellt der Gesetzgeber vergleichsweise die meisten Anforderungen an die Kalkulation. Aktuare sind hier an feste Vorgaben gebunden. Ob dabei moderne Verfahren einen Mehrwert für Kunden und Unternehmen leisten würden, ist schwer zu beurteilen. Ich würde dies aus heutiger Sicht bezweifeln, da sich  die Rahmenbedingungen mit Blick auf die Schadensituation regelmäßig verändern und die unsichere Datenlage den Erfolg von KI und Automation in der Kalkulation erschwert.

In der Lebensversicherung sieht die Situation schon etwas anders aus. Hier müssen Aktuare aus regulatorischer Sicht insbesondere das Vorsichtsprinzip bei der Prämienkalkulation berücksichtigen. Das erfordert bestimmte versicherungsmathematische Annahmen, also ebenfalls eine angemessene Datengrundlage. Diese kann durchaus vorhanden sein und dann kann KI an verschiedenen Stellen gut unterstützen.

In der Schaden-/Unfallversicherung sind die regulatorischen Vorgaben dagegen vergleichsweise überschaubar. Neue Ansätze und Technologien können also schneller ausprobiert und getestet werden. Hier sehe ich für den Einsatz Künstlicher Intelligenz bei typischen aktuariellen Fragestellungen aktuell das größte Potenzial.

Einen großen Mehrwert von KI-Methoden sehe ich auch – unabhängig von der jeweiligen Versicherungssparte – bei der Optimierung der Geschäftsprozesse. Zum Beispiel gibt es vielversprechende Ansätze für die KI-basierte Schadenregulierung oder die Leistungsprüfung.

Ist eine Ausbildung zum Aktuar noch gefragt, wenn Daten, KI und Analytics eine so große Rolle spielen? Sollten Studierende nicht lieber auf Data Science setzen?

Die Ausbildung zur Aktuarin bzw. zum Aktuar ist in Deutschland sowohl in den Hochschulen als auch in der Deutschen Aktuarvereinigung e. V. (DAV) sehr gut organisiert und erfüllt die Anforderungen der Internationalen Aktuarvereinigung. Gleichzeitig beinhaltet die Aktuarausbildung auch Kompetenzen, die typischerweise in das Profil eines Data Scientists passen. Studierenden, die aktuell vor der Entscheidung zwischen Aktuarwissenschaften und Data Science stehen, empfehle ich daher die DAV-Ausbildung. Gleichzeitig rate ich aber auch dazu, die Data Science-Kompetenzen zusätzlich zu verbessern und zu stärken, da sie in vielen aktuariellen Tätigkeiten zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen werden. Darüber hinaus kann die Zusatzqualifikation „Certified Actuarial Data Scientist“ (CADS) bei der DAV erworben werden. Am Ende sollte sich jede bzw. jeder Studierende mit der eigenen Entscheidung wohlfühlen und das Ziel mit Begeisterung anstreben. Beide Berufsprofile bieten aus meiner Sicht hervorragende Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt: Die Versicherungsbranche benötigt sowohl Aktuare als auch Data Scientists. Und auch in Beratungsunternehmen wie Comma Soft, welche Versicherungen bei der digitalen Transformation unterstützen, sind beide Profile gefragt. Alles in allem ist ein hohes Maß an Interdisziplinarität erforderlich. Das macht die aktuarielle Tätigkeit sowie die Beratung im Versicherungsumfeld so spannend und abwechslungsreich.

Du interessierst dich für einen Job mit Bezug zur Versicherungsbranche und für das Thema Data Science? Nimm gerne Kontakt mit unseren Kolleg:innen aus dem Insurance-Team auf oder wirf direkt einen Blick in unsere offenen Stellen.

Prof. Dr. Jan-Philipp Schmidt ist Wirtschafts­mathematiker und Mathematiker. Seit 2016 ist er Professor für Aktuarwissenschaften an der TH Köln und unterrichtet dort im Bachelor- und Master-Studiengang Risk and Insurance. Zuvor hat er u. a. als aktuarieller Unternehmensberater im ifa Institut in Ulm gearbeitet. Mit seiner Expertise in Forschung und Wirtschaft unterstützt Prof. Schmidt die Versicherungsbranche als stellvertretender Vorsitzender im Vorstand der Deutschen Gesell­schaft für Versicherungs- und Finanz­mathematik (DGVFM) sowie als Mitglied der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV).