Digitalisierung in Familienunternehmen: Wie Werte und Wandel in Einklang kommen
90 % aller Unternehmen in Deutschland sind familiengeführt. Das bestätigt die Stiftung Familienunternehmen und belegt in ihren Studien auch, dass mittelständische Familienunternehmen rund 52 % der wirtschaftlichen Erträge in Deutschland erbringen. Der familiengeführte Mittelstand ist also ein wichtiger Akteur – und steht wie viele andere Unternehmen vor der Aufgabe, sich den Herausforderungen der digitalen Transformation zu stellen. Durch den „Family-Faktor“ bestehen im Vergleich zu nicht familiengeführten Unternehmen allerdings andere Rahmenbedingungen. Wie sich diese auswirken und was die digitale Transformation in Familienunternehmen besonders herausfordernd macht, hat unsere Kollegin Maren Bendel im Zuge eines Forschungsprojekts des Wittener Instituts für Familienunternehmen (WIFU) untersucht.
Maren, du berätst familiengeführte Unternehmen als Business & Strategy Consultant bei Comma Soft – die selbst familiengeführt ist. Außerdem hast du im WIFU-Projekt zu „Digitalisierung in Familienunternehmen“ geforscht und promovierst jetzt auch zu diesem Thema. Woher kommt deine Begeisterung für Familienunternehmen?
Unternehmerfamilien meistern seit jeher ein komplexes Problem: Sie müssen persönliche Wünsche und unternehmerische Zielsetzungen in Einklang bringen. Die Selbstverwirklichung im Rahmen des Berufs, die sich heute immer mehr Menschen wünschen, ist bei Unternehmerfamilien seit jeher Bestandteil des Kerngeschäfts. Gleichzeitig ist auch die Arbeitskultur in diesen Unternehmen oftmals eine andere als in nicht familiengesteuerten Unternehmen: Es herrscht oft eine familiäre Atmosphäre, die viele Mitarbeiter:innen schätzen. In einem Unternehmen zu arbeiten, in dem sich Geschäftsführung, Inhaber und Belegschaft auf Augenhöhe begegnen und eng zusammen daran arbeiten, die Unternehmensziele zu erreichen: Das hat mich neugierig gemacht. Auf der einen Seite wollte ich selbst erleben, ob die Arbeit in einem Familienunternehmen meinen Vorstellungen entspricht: Gibt es dieses erfüllende, selbstbestimmte Handeln und gleichzeitig eine wertschätzende, fürsorgliche Atmosphäre? Bei Comma Soft ist das der Fall, was mich immer wieder freut. Auf der anderen Seite wollte ich parallel zu meiner Arbeit als Consultant weiterhin der Forschungsfrage nachgehen, ob ein solcher familiärer Charakter in der heutigen digitalen Ära weiterhin bestehen kann. Welche Faktoren sind entscheidend, damit speziell Familienunternehmen einen höheren Grad an Digitalisierung erreichen können? Gibt es besondere Eigenschaften, die ihre digitale Transformation beeinflussen? Diesen Fragen bin ich in meiner Forschungsstudie auf den Grund gegangen und vertiefe die Ergebnisse jetzt in meiner Promotion, in der ich mich dem speziellen Digitalisierungsthema Cybersicherheit widme.
Über das Forschungsprojekt „Digitalisierung in Familienunternehmen“
- Kooperationsprojekt: WIFU (Universität Witten/Herdecke) & Forschungszentrum Mittelstand (Universität Trier)
- Förderung: WIFU-Stiftung für Familienunternehmen
- Leitfrage: Wie können Familienunternehmen ihre digitale Transformation vorantreiben?
- Teilthemen: Digitalisierungsmaßnahmen, strategische Digitalisierungs- & Unternehmensziele, Ressourcenallokation
- Anzahl befragter Unternehmen: > 500 KMUs in Deutschland
- Autoren: Prof. Dr. Thomas Clauß, Prof. Dr. Jörn Block, Dr. Matthias Johann, Solvej Lorenzen & Maren Bendel
Was sind das für besondere Eigenschaften, die Familienunternehmen haben?
In meiner Forschungsarbeit bin ich zunächst auf über 100 verschiedene Definitionen für den Begriff „Familienunternehmen“ gestoßen. Die meisten basieren auf dem Drei-Kreis-Modell von Tagiuri und Davis. Danach hat ein Familienunternehmen drei Dimension: das Unternehmen, die Familie und das Eigentum. Durch die Schnittmengen dieser Kreise lässt sich der besondere Charakter von Familienunternehmen ableiten: Die Familie und ihre Grundsätze sind der Dreh- und Angelpunkt von strategischen Entscheidungen. Der Dreiklang „Familie“, „Eigentum“ und „Unternehmen“ und die Interaktion dieser Elemente zeigt sich insbesondere in Form von spezifischen sozio-emotionalen Werten, die sich auf strategische und operative Entscheidungen auswirken.
Was sind das genau für familiäre Werte und wie wirken sie im Unternehmenskontext?
Zum einen findet man hier eine besonders ausgeprägte Loyalität und eine besondere Form von Exzellenzstreben: Familienunternehmer:innen identifizieren sich oftmals stark mit dem Unternehmen, vor allem wenn sie oder ihre Vorfahren es gegründet haben – zum Teil sind ja auch Unternehmens- und Familienname identisch. Vor diesem Hintergrund bekommt Erfolg einen anderen Stellenwert: Der Unternehmenserfolg wird häufig als persönlicher Erfolg verstanden. Hinzu kommen enge soziale Bindungen mit Mitarbeiter:innen und externen Partnern bzw. Institutionen. Und schließlich haben emotionale Argumente in Entscheidungen oft einen hohen Stellenwert – das berühmte Bauchgefühl, aber auch Ausdauer in Bezug auf die transgenerationale Weitergabe strategischer Perspektiven.
Hieraus ergibt sich oft eine starke Ambivalenz. Das kann man beispielsweise recht gut am Innovationsverhalten erkennen: Auf der einen Seite schaffen die genannten Werte optimale Innovationsbedingungen, z. B. eine eng verbundene Gemeinschaft, die den Wissensaustausch befeuert. Bei der Optimierung des Kernportfolios wirkt sich dies immer wieder sichtbar aus. Man kann sogar sagen, dass es sich dabei um die Königsdisziplin der Familienunternehmen handelt. Auf der anderen Seite bilden die familiären Werte häufig einen Gegenpol, wenn disruptive, transformative Innovationen umgesetzt werden sollen. Altbewährtes trifft auf Neues und damit gefühlte Sicherheit auf gefühlte Unsicherheit. Das erzeugt Spannungen.
Besonders die tiefgehende Transformation erfordert eine kritische Reflexion der unternehmerischen DNA, z. B. des Geschäftsmodells. Lange bestehende Strukturen und Traditionen aus eigener Kraft aufzubrechen, ist aber oft schwer und durch die Überlappung der Systeme vielfach kaum möglich. Denn es geht hier nicht nur um eine Veränderung in einem Unternehmen, sondern auch immer um die eigene Familie und die eigene Identität. Für die Resilienz eines Unternehmens ist Wandlungsfähigkeit jedoch eine Notwendigkeit, um das unternehmerische Fortbestehen zu sichern. Man spricht hier sogar von einem „Innovationsdilemma“, das sich aus der Diskrepanz zwischen der vorhandenen Fähigkeit, Innovationen umzusetzen, und der emotionalen Bereitschaft dazu ergibt.
Konntest du solche Ambivalenzen in Familienunternehmen in deiner Studie nachweisen?
Ich habe Familienunternehmen dazu befragt, welche sogenannten dynamischen Fähigkeiten sie wie stark nutzen. Es gibt drei essenzielle Bündel von Fähigkeiten: das „Sensing“, das „Seizing“ und das „Transforming“. Damit ist gemeint, wie technologische Chancen identifiziert und umgesetzt werden und wie die Organisation dadurch weiterentwickelt wird. Diese drei Fähigkeiten bilden einen aufeinander aufbauenden Prozess, durch den sich innovative Ideen in einem etablierten Unternehmen verankern lassen. Genau das ist entscheidend für die Einführung digitaler Technologien und trägt in Familienunternehmen wesentlich zum Erreichen eines höheren Digitalisierungsgrades bei. Die Ergebnisse der Befragung zeigen: Je mehr von diesen Fähigkeiten vorliegen bzw. je stärker sie ausgeprägt sind, desto eher sind Prozesse automatisiert und desto digitalisierter und datengetriebener die strategisch ausgewählten Produkte und Dienstleistungen und die Werterfassung im Geschäftsmodell.
Die Studienergebnisse zeigen aber auch, dass die sozio-emotionalen Werte von Familienunternehmen einen Gegenpol zu ihren dynamischen Fähigkeiten bilden. Hohe Identifikation mit dem Unternehmen, enge soziale und emotionale Bindungen, das Bestreben, das Unternehmen in familiärer Hand zu halten: All das kann den positiven Effekt von dynamischen Fähigkeiten verringern.
Wie können Familienunternehmen mit dieser Ambivalenz umgehen?
Dynamische Fähigkeiten können gezielt gestärkt werden. Konkret kann das so aussehen, dass die Reflexion über das eigene Unternehmen fest etabliert wird. Die Analyse des unternehmerischen Umfeldes, das Ableiten digitaler Initiativen, deren Umsetzung und ein kritisches Reflektieren über Veränderungen: All das sollte fester Bestandteil der unternehmerischen Praxis sein. Im ersten Schritt kann das durch gezielte Wissensgenerierung erfolgen, z. B. durch offene Innovationsprozesse mit verschiedenen Interessengruppen. Hier spielt das Wissen der Mitarbeiter:innen über interne Strukturen und deren Optimierungspotenziale eine entscheidende Rolle und kann z .B. durch Ideenwettbewerbe aktiviert werden. Innovative Prozesse, neue Produktideen oder neue Geschäftslogiken sollten dann systematisch dokumentiert werden. Auch der Auf- und Ausbau eines eigenen Innovationsbereichs und Investitionen in Forschung & Entwicklung können den unternehmerischen Suchhorizont erweitern.
In einem zweiten Schritt geht es dann darum, Prozess- und Produktinnovationen umzusetzen. Neben hauseigenen Initiativen setzen viele Familienunternehmen bei Innovationsprojekten auch auf eine Zusammenarbeit mit strategischen Wertschöpfungspartnern. Zum einen, weil das hinsichtlich der vorhandenen Ressourcen oft notwendig ist. Zum anderen können sie dadurch noch mehr Marktwissen erlangen, frühzeitig Trends erkennen und neue digitale Möglichkeiten durch gemeinsame Pilotprojekte erproben.
Im dritten Schritt steht die Integration von neuen Kompetenzen im Fokus. Das umfasst z. B. digitale Kompetenzen und technologische Expertise, aber auch das Fördern von Kreativität z. B. durch Design Thinking. Außerdem sollten sich Unternehmen auch überlegen, wie sie Innovationen bei „Störungen“ im Tagesgeschäft weiterhin vorantreiben und Projekte flexibel steuern können, z. B. durch agiles Projektmanagement. Bei all dem helfen regelmäßige Workshops und Weiterbildungen oder auch die kontinuierliche Begleitung durch externe Berater:innen
Wenn die dynamischen Fähigkeiten gezielt gestärkt werden, sollte man sozio-emotionale „wegtrainieren“, damit sie kein Hindernis für die Transformation darstellen?
Die Unternehmerfamilie trägt ihre Werte in sich und all ihr Handeln beruht darauf. Das kann nicht einfach wegtrainiert werden, besonders wenn das Familienunternehmen schon über Generationen hinweg besteht. Und das soll es auch nicht, da es ja den besonderen Charakter von Familienunternehmen ausmacht und ein solides Fundament für Innovationen und die digitale Transformation bieten kann. Vielmehr geht es darum, ein gesundes Gleichgewicht zwischen innovativen Dynamiken und etablierten Werten zu schaffen.
Die Mitglieder der Unternehmerfamilien haben dabei eine Vorbildfunktion. Sie können den Digitalisierungsprozess aktiv unterstützen und mit den Werten in Einklang bringen, indem sie ihre eigene Haltung und ihre nicht-ökonomischen Zielsetzungen immer wieder kritisch reflektieren, sich ihrer Symbolfunktion im Unternehmen bewusst werden und die strategisch-digitale Neuorientierung proaktiv anstoßen. Sich selbst zu hinterfragen, gerade wenn man auf viele erfolgreiche Jahre zurückblickt, ist keine leichte Aufgabe. Umso wichtiger sind zusätzliche Perspektiven, die einen Blick auf das gesamte Unternehmen, seine Ziele und potenzielle Digitalisierungsprojekte werfen und das Vorhaben mitbegleiten: Strategische Beratung kann hier ein Schlüssel sein, um den Blick für Neues zu öffnen, um Visionen für die Zukunft und Wege dorthin zu entdecken und schließlich auch umzusetzen.
Wenn Sie sich mit Maren Bendel und ihren Team-Kolleg:innen zu diesem Thema weiter austauschen möchten, sprechen Sie uns gerne an: Hier können Sie Kontakt aufnehmen.