Pharma Expert-Talk: „Mit Daten machen wir die Welt ein Stück besser!“

Die Pharma-Branche erlebt derzeit eine Neuausrichtung: Weg von Konsolidierung, hin zu Partnerschaften mit externen KI- & Data Science-Expert:innen. Wie diese Bestrebungen neben dem unternehmerischen Erfolg auch zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung beitragen, berichtet Dr. Henning Dickten im Interview.

Verfolgt man die Medien, scheint der Pharma-Markt gerade an einem Wendepunkt zu stehen: Was beschäftigt die Branche derzeit?

In den letzten Jahren drehte sich viel um Fusionen und Übernahmen von kleineren Unternehmen, um Know-how im großen Stil einzukaufen. Aktuell sehen wir, dass diese Welle abflacht. Die großen Unternehmen bemühen sich stattdessen verstärkt darum, gezielt KI-Expertise aufzubauen. Dafür gibt es zum einen viele interne Schulungsprogramme, aber auch viele strategische Partnerschaften mit Start-ups und Beratungen. Beispielsweise holen sie externe Data Science-Expertise ins Haus. So können sie relativ schnell auf neue Technologie-Trends wie (Generative) Künstliche Intelligenz reagieren und ihr Angebot in Richtung personalisierte Medizin und Patientenmündigkeit ausbauen, ohne erst eigene Ressourcen aufzubauen.

Weitere wichtige Themen sind Nachhaltigkeit, resiliente Lieferketten und die Nutzung von E-Health-Plattformen zur Vernetzung von Patienten, Studienteilnehmer:innen, Ärzten und weiteren Stakeholdern im Gesundheitswesen. In Summe lässt sich sagen, dass sich der Fokus von der Konsolidierung zu Partnerschaften verlagert und dass die gesellschaftliche Verantwortung verstärkt wahrgenommen wird.

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Welche neuen Herausforderungen kommen dadurch auf Pharma-Unternehmen zu?

Ich sehe bei Pharma-Unternehmen aktuell vor allem vier Issues. Erstens: Hohe Personalisierung von Medikamenten und Medizinprodukten und damit einhergehend eine verstärkte Ausrichtung auf den Kunden. Um dies zu schaffen, brauchen die Unternehmen natürlich die entsprechenden Daten der Patient:innen. Die Frage ist: wo bekommen Sie diese her und halten gleichzeitig regulatorische Anforderungen an den Datenschutz ein? Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) zielt darauf ab, dies zu ermöglichen. Technisch lässt sich das Ganze dann wiederum mit Digitalen Zwillingen und Federated Lerning angehen.

Zweitens: die „Time-to-Market“. Das Ziel ist es, neue Wirkstoffe und Therapien schneller verfügbar zu machen – z. B durch Prognosen mittels KI und Daten. Damit lässt sich beispielsweise die Entwicklung eines Medikaments von 12 Jahren auf unter 10 Jahre verkürzen – was immer noch eine lange Zeitspanne ist, aber vielfach schneller als so mancher Wettbewerber.

Als Drittes stehen Nutzbarkeit und Datenqualität über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg im Fokus. Oft werden Daten noch punktuell erhoben, z. B. für einzelne Projekte oder einzelne Experimente. Diese einzelnen Datensätze ergeben aufgrund fehlender Standardisierungen aber keinen nutzbaren Gesamtdatensatz. Dieser ist aber nötig, um z. B. Prozesse von A bis Z zu modellieren und zu automatisieren sowie um jederzeit stichhaltige Prognosen zu treffen. Das ermöglicht es dann, an jeder Stelle der Wertschöpfungskette datengetriebene Entscheidungen zu treffen – von F&E über die Produktion bis zum Vertrieb.

Gleichzeitig sollte man im Kopf behalten, dass eine solche Ausrichtung auf datengetriebene Prozesse auch einen geschulten Umgang mit Daten erfordert – Stichwort Data Competence. Hier gilt es, Mitarbeiter:innen früh einzubeziehen und entsprechend zu schulen, und zwar von der Sachbearbeitung im Kundenservice über die Fachabteilungen bis hin zum Management.

Der vierte Punkt ist schließlich die Modernisierung der gesamten IT-Infrastruktur, über die Analysen, Datennutzung und Prozessdigitalisierung stattfinden. Hier ist immer noch der Zugang zu Daten oder mit KI trainierten Algorithmen ein Problem. Ich freue mich, dass wir beim Projekt „ImmunoHub“ zur Erforschung von COVID-19 mit Federated Learning-Ansätzen und geeigneter Infrastruktur dazu beitragen konnten, hier Entlastung zu schaffen. Solche Lösungen müssen sich aber erst noch weiter etablieren.

Die Ausrichtung auf Partnerschaften, durch die der technologische und organisatorische Wandel begleitet und beschleunigt wird, ist aus meiner Sicht genau der richtige Ansatz, mit dem Pharma-Unternehmen diese vier Punkte angehen können.

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Was sollten Pharma-Unternehmen gemeinsam mit ihren Partnern konkret angehen?

Die digitale Transformation vorantreiben. Das klingt vielleicht wie ein alter Hut, ist aber längst nicht überall ausgereizt. Es gibt noch immer viele Reibungsverluste auf dem Weg vom Entdecken eines Wirkstoffkandidaten bis zum marktreifen Produkt: das Design geeigneter Studien wird häufig mit komplizierten Excel-Tabellen abgebildet, das Recruiting passender Kohorten per E-Mail-Weitwurf, Conduct von Studien und Close-Out erfolgen in eigenen (meist projektspezifischen) Datenbanken und die jeweiligen Probleme und Erkenntnisse fließen nicht zurück – all diese Schritte lassen sich häufig durch einen konsequenten digitalen roten Faden unter Nutzung von allen verfügbaren und relevanten Informationen, modernen Systemen und passenden Prozessen modellieren und mit KI-Assistenten deutlich beschleunigen und entschlacken.

Da die Unternehmen derzeit verstärkt in Netzwerken, Partnerschaften und Kooperationen denken, können sie solche Themen gut angehen, ohne sich selbst zu überfordern. Im Bereich KI und IT-Infrastruktur stellen sich viele unserer Kunden mittlerweile die sinnvolle Frage: Ist das unsere Kernkompetenz oder können wir nicht von anderen profitieren und uns deren Expertise bei Bedarf dazuholen? Ich würde ja auch nicht selbst Medikamente entwickeln, sondern konzentriere mich auf mein Spezialgebiet: Data Science. Damit können mein Team und ich Pharma-Unternehmen weiterhelfen.

Warum liegt bei dir und deinem Team der Fokus insbesondere auf Pharma & Life Science?

Zunächst einmal muss ich betonen, dass meine Kolleg:innen und ich bei Comma Soft in den unterschiedlichsten Branchen unterwegs sind. Vom Versicherungswesen über die produzierende Industrie bis eben hin zu Pharma & Life Science. Viele haben zudem vor ihrer Arbeit bei Comma Soft in medizinischen Bereichen geforscht und promoviert, z. B. in den Bereichen Neuroonkologie, Epileptologie oder medizinische Bildgebung. Letzteres hat für uns einen besonderen Stellenwert, da wir mehrheitlich aus der Wissenschaft kommen. Man findet bei uns im Team genauso jemanden aus Mathematik, Physik, Chemie und Biologie wie aus den Geisteswissenschaften. Was uns allen gemein ist: Wir wollen nicht nur in grauer Theorie forschen, sondern Lösungen auf die Straße bringen. Die „Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft“ bauen, wie wir sagen. Für mich sind Pharma- und Life Science-Unternehmen mit ihrem hohen Fokus auf F&E daher besonders interessant. Zudem sehe ich in Pharma & Life Science einen tieferen Sinn, wenn z. B. Medikamente entwickelt werden, die Menschenleben retten, Krankheiten wie COVID-19 eindämmen und somit ganz konkret Menschen helfen. Mein Team und ich können also mit Daten und Algorithmen dazu beitragen, dass wir die Welt jeden Tag ein Stück besser machen.

Wie trägst du mit deinem Team konkret zu einer „besseren Welt“ bei?

Da gibt es viele Möglichkeiten: Unter anderem beschäftigen wir uns mit unseren Partnern damit, wie sich Krankheitsbilder besser diagnostizieren und therapieren lassen. Zum Beispiel im Rahmen von Studien wie zur Lungenkrankheit COPD, bei der Kartierung der Lunge im Projekt Human Lung Cell Atlas oder in einem Projekt zu COVID-19-Therapien, bei dem wir mit unseren Partnern die technologische Plattform für den Austausch von Forschungsdaten und -ergebnissen umgesetzt haben.

Außerdem beschäftigen wir uns auch damit, wie die Arbeit in Pharmaunternehmen selbst verbessert werden kann. Wir haben z. B. mithilfe von Machine Learning Dubletten im weltweiten CRM-System eines Pharma-Konzerns bereinigt. Das macht die Arbeit der Mitarbeiter:innen um vieles einfacher, diese Erleichterung in den Gesichtern zu sehen ist großartig. Gleichzeitig ist die saubere Datenbasis entscheidend für die Zusammenarbeit mit Organisationen und Forscher:innen auf der ganzen Welt. Ein anderes Beispiel findet sich in der Produktion beim Bördeln: Mithilfe von Machine Learning konnten wir Haupttreiber identifizieren und eine Formel ableiten, die Prognosen für Testdurchläufe ermöglicht. Damit lassen sich die Testdurchläufe um ein Vielfaches verkürzen – die Produktionsstraßen müssen nicht stillstehen und Medikamente können somit viel schneller hergestellt und zur Heilung von Menschen genutzt werden. Das sind nur zwei Beispiele von vielen spannenden Projekten, die mir am Herzen liegen.

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Process Performance Improvement in der Pharmaindustrie

Testdurchläufe verkürzen & Produktionsstillstände vermeiden – mit Machine Learning, aber ohne Machine Learning-Blackbox […]

Ohne Daten und KI kommen Pharma-Unternehmen also nicht mehr aus. Was hältst du von Generativer KI wie ChatGPT? Wird sie in Zukunft auch in Pharma-Unternehmen zum Einsatz kommen?

Eine sehr gute Frage – hier sehe ich durchaus Möglichkeiten: Theoretisch kann Generative KI beim Verfassen von Anträgen und Berichten für Behörden, bei der Erstellung von Produktinformationen oder sogar Arzneimittelpackungsbeilagen oder wissenschaftlichen Artikeln unterstützen. Es lassen sich zielgruppengerechte Texte generieren, die sowohl Healthcare-Professionals als auch Laien Informationen zugänglich machen. In einer hochregulierten Branche wie Pharma & Life Science muss dabei aber auch immer die Frage nach digitaler Ethik, Datenschutz und Compliance berücksichtigt werden. Das ist durchaus noch eine Hürde, für die jedes Unternehmen eine eigene Lösung finden muss.

Neben Generativer KI gibt es aber bereits zahlreiche „klassische“ KI-Lösungen, die sicher im eigenen Unternehmen zum Einsatz kommen können. Die Bilderkennung und -analyse von Röntgenaufnahmen oder MRT-Scans ist ein Beispiel, wie KI im Gesundheitswesen bereits zum Einsatz kommt und auch in der Pharma-Forschung unterstützen kann, wenn Anomalien identifiziert werden sollen. Man muss sich also gar nicht für oder gegen ChatGPT und ähnliche Tools entscheiden. Wichtiger ist, dass am Ende durch die passende Technologie die eigenen Ziele erreicht werden. Es ist wie ein Puzzle, bei dem man das passende Teil finden muss und dann durch ein großes Gesamtbild belohnt wird – wobei kein Bild dem anderen gleicht. Genau das macht meine Arbeit so spannend.

Wenn Sie sich weiter zu aktuellen Trends und Herausforderungen in Pharma & Life Science austauschen möchten, kontaktieren Sie gerne Dr. Henning Dickten und seine Kolleg:innen: Hier können Sie Kontakt mit uns aufnehmen.